In einer Welt, die oft von Hektik, Zielstrebigkeit und dem Streben nach „mehr“ geprägt ist, kann die Idee der „Freude am Sein“ fast revolutionär wirken. Es geht nicht darum, etwas zu erreichen, zu besitzen oder zu verändern, sondern einfach darum, da zu sein – präsent, bewusst und offen für den Augenblick. Diese Freude entspringt nicht äußeren Umständen, sondern einer inneren Haltung. Doch was bedeutet es wirklich, die Freude am Sein zu kultivieren? Und wie können wir sie in unserem Alltag finden?
Vom Haben zum Sein: Eine grundlegende Verschiebung
Der Psychoanalytiker Erich Fromm unterschied in seinem Werk „Haben oder Sein“ zwischen zwei grundlegenden Existenzformen: dem „Haben“, das von Besitzstreben und Kontrolle geprägt ist, und dem „Sein“, das sich durch inneres Wachstum, Verbundenheit und Lebendigkeit auszeichnet. Die Freude am Sein entsteht, wenn wir uns vom Druck lösen, ständig etwas erreichen oder sammeln zu müssen. Stattdessen erlauben wir uns, das Leben zu erfahren, wie es ist – mit all seiner Unvollkommenheit und Schönheit.
Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem sonnigen Herbsttag im Park. Anstatt Fotos für soziale Medien zu machen oder die Zeit mit Grübeleien zu füllen, spüren Sie bewusst die Wärme der Sonne auf der Haut, hören das Rascheln der Blätter und atmen die klare Luft ein. In diesem Moment geht es nicht darum, etwas zu besitzen oder zu dokumentieren, sondern darum, ganz im Erleben zu ruhen.
Achtsamkeit als Schlüssel zur Gegenwart
Die Praxis der Achtsamkeit ist ein zentraler Weg, um die Freude am Sein zu entdecken. Achtsamkeit bedeutet, den gegenwärtigen Moment bewusst und ohne Bewertung wahrzunehmen. Wenn wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was jetzt geschieht – sei es der Geschmack des Morgenkaffees, das Lachen eines Kindes oder das Gefühl des Atems –, öffnet sich ein Raum der Stille in uns. In dieser Stille kann Freude aufblühen, nicht als überschwängliche Euphorie, sondern als tiefes Gefühl des Verbundenseins mit dem Leben.
Ein häufiges Missverständnis ist, dass Achtsamkeit nur durch Meditation geübt werden muss. Doch sie kann in jeden Alltagsakt integriert werden: beim Spazierengehen, beim Abwaschen oder sogar in einer Warteschlange. Es geht darum, die Automatik des Gedankenkarussells zu unterbrechen und stattdessen die Sinne zu aktivieren.
Die Natur als Lehrmeisterin
Die Natur ist eine kraftvolle Lehrerin der Freude am Sein. Ein Baum steht einfach da – er kämpft nicht darum, schneller zu wachsen, und vergleicht sich nicht mit anderen Bäumen. Er existiert in vollkommener Harmonie mit seinem Wesen und den Gegebenheiten. Wenn wir Zeit in der Natur verbringen, können wir diese Haltung der Gelassenheit und des Vertrauens in den Fluss des Lebens absorbieren.
Probieren Sie es aus: Legen Sie sich ins Gras und betrachten Sie den Himmel. Beobachten Sie, wie Wolken ziehen, ohne ein Ziel zu verfolgen. Spüren Sie, wie der Wind Ihre Gedanken fortweht und Platz macht für Stille. In solchen Momenten wird deutlich: Das Leben braucht kein Drama, um bedeutsam zu sein.
Die Kunst der Akzeptanz
Ein Hindernis auf dem Weg zur Freude am Sein ist unser Widerstand gegen das, was ist. Wir wünschen uns, dass bestimmte Situationen anders wären, oder klammern uns an Vergangenes. Doch wahre Freude entsteht, wenn wir lernen, den Moment anzunehmen – selbst wenn er schmerzhaft, langweilig oder herausfordernd ist.
Akzeptanz bedeutet nicht Passivität. Es geht darum, die Realität klar zu sehen und aus einer Haltung der inneren Ruhe heraus zu handeln, statt aus Angst oder Groll. Wenn wir aufhören, gegen das Leben anzukämpfen, spüren wir eine Erleichterung, als würden wir einen schweren Rucksack absetzen. Plötzlich wird Raum frei für Dankbarkeit, Staunen und Freude an den kleinen Dingen.
Praktische Schritte, um die Freude am Sein zu kultivieren
Warum es sich lohnt, die Freude am Sein zu entdecken
In einer Kultur, die Erfolg an Äußerlichkeiten misst, mag die Freude am Sein wie ein Luxus erscheinen. Doch sie ist essenziell für ein erfülltes Leben. Wenn wir ständig im „Tun-Modus“ sind, verlieren wir den Kontakt zu unserer menschlichen Tiefe. Die Freude am Sein erinnert uns daran, dass wir keine Maschinen sind, die optimiert werden müssen, sondern Wesen, die zum Fühlen, Staunen und Lieben geboren sind.
Diese Freude ist kein dauerhafter Zustand, sondern eine immer wiederkehrende Einladung. Manche Tage werden von Sorgen oder Pflichten dominiert sein – doch selbst dann können wir innehalten, atmen und uns fragen: Kann ich in diesem Moment, genau so wie er ist, ein Hauch von Frieden spüren?
Am Ende geht es nicht darum, das Leben zu „meistern“, sondern darum, es zu umarmen – mit all seinen Widersprüchen. Die Freude am Sein ist kein Ziel, sondern ein Weg. Ein Weg, der uns lehrt, dass wir schon jetzt, in diesem Atemzug, vollkommen sind.
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